Die Stadt, der Alltag und Stefan
Annelie Pohlen

Im Museum ist alles feierlich; der Alltag bleibt draußen, es sei denn, die Kunst verhilft ihm zu einem Auftritt auf Zeit. Eine Bushaltestelle mit abgestelltem Fahrrad, ein durch Stoffbahnen abgedunkelter Raum, besser die Hülle eines Raumes, und etwas weiter eine Raumkulisse erzeugen im Lehmbruckmuseum die befremdliche ‚Aura’ von Alltag im urbanen Lebensraum. Die Briefkästen sind reichlich hoch angebracht für Botschaften von draußen nach drinnen. Die Klingelanlage mutet seltsam an; für das gegebene Gebäude sind allzu viele Klingeln vorgesehen.

Wer den Überblick über die Anlage gewinnen will, versucht den Blick hinter die Kulisse. Die Türen sind Fake; man benötigt sie nicht, um in den ohnehin offenen Raum zu gelangen. Auf dem Boden eine wild gestreute Ansammlung von Briefen, ganz so, wie man es von Hauseingängen kennt, die lediglich über Schlitze in der Tür verfügen. Der Blick in den geschlossenen Raum gelingt nur, wenn man auf die Leiter vor den Fenstern steigt. Man sieht ein Bett und einen Monitor. Auf diesem wie im Abspann von Filmen nichts als Namen. Irgendwann fällt auf, dass alle Personen eins gemeinsam haben: ihr Vorname ist Stefan. Um mehr zu erfahren, steigt man in den Raum, setzt sich auf das Campingbett. Es hilft nicht weiter. Man schaut zur Bushaltestelle. Der Fahrplan weist die üblichen Abfahrtszeiten aus, aber keine Haltestellen, dafür neuerlich Personennamen. Zurück zum Haus. Die Briefkästen sind ausschließlich für Stefan vorgesehen. Und die endlos vielen Klingeltaster, auch nur für Stefan. Das Foto von einer Briefkastenanlage trägt auf allen Klappen die Aufforderung “Bitte keine Post und Werbung einwerfen“, darunter mit Filzstift nachgetragen: der Besitzer. Auch hier immer und immer wieder Stefan. Es ist unschicklich, fremde Briefe zu studieren. Man tut es diesmal vermutlich doch, inzwischen wohl ahnend, dass alle an Stefan adressiert sind.

Einige werden die Abteilung Kopf schüttelnd verlassen. Andere werden grübelnd herumstreifen – auf der Suche nach Stefan. Spätestens dann erlebt man eine Schrecksekunde: Das Fahrrad fällt um. Ein/e Museumswärter/in richtet es wieder auf. Im Museum darf nichts fallen; Krach ist nicht beliebt. Vermutlich ist es Stefans Fahrrad. Da er nicht da ist, fallen die Aufseher auf. Man fühlt sich beobachtet. Soll man die Klingel testen? Es klingelt tatsächlich. Die nächste auch und so fort. Man könnte ein Konzert aufführen. Es sieht nicht danach aus, als würde man daran gehindert. Nur Stefan reagiert nicht. Man könnte ihm einen weiteren Brief zukommen lassen; vermutlich würde er auch diesen nicht öffnen. Offensichtlich liegt ihm nichts an Mitteilungen, ganz so wie es auf dem Foto zu lesen ist. Keine Werbung, die will inzwischen ohnehin keiner mehr, aber eben auch keine Post. Man geht noch einmal herum, vielleicht fällt das Fahrrad wieder um und wieder kommt jemand, um es aufzurichten. Das verschreckt oder animiert, ganz so wie die von Bewegungsmeldern gesteuerten Lampen an Hauseingängen. Könnte sein, dass Stefan diese seltsame Methode mit dem Fahrrad gewählt hat, um ungebetene Personen von seinem Territorium zu vertreiben. Aber welcher Stefan? Immerhin beweist das Video, dass Stefan existiert. Die Lehmbruck-Stipendiatin hat im Telefonverzeichnis von Duisburg recherchiert. Einer von den Hunderten aus dem Videoloop könnte kommen und behaupten, er sei dieser Stefan. Wahrscheinlich ist das nicht. Was sollte er auch mit all den Briefen anfangen?

Die flüchtige Begegnung mit einer Person namens Stefan war der Auslöser. Sie wollte ihn wieder treffen und ging einige male zurück, natürlich erfolglos. So ist die städtische Umgebung, kurze Begegnungen – und dann nichts mehr.

Yukako Ando (er)findet Geschichten, eher Auslöser für Geschichten, die man sich selber erzählen kann. Man kennt die Auslöser, das umgekippte Fahrrad, das niemand aufhebt, auch wenn es tagelang im Weg liegt, die vielen Briefkästen und Klingelanlagen mit unvollständig oder gar nicht ausgewiesenen Besitzern, die im Flur herumfliegenden Postsendungen, die niemand aufliest. Die Bewohner heißen Stefan oder auch anders. Man trifft sie, dann sind sie wieder weg.

Yukako Ando kommt aus Osaka nach Deutschland. Auf den ersten Blick scheint die europäische Stadt noch intakt. Wo noch traditionsreiche Substanz vorhanden ist, gibt es ein Zentrum – Platz, Kirche, Markt, Geschäfte oder so ähnlich. Von dort wächst die Stadt nach draußen. Stadt und Land gehen nahtlos ineinander über. Die Einkaufszentren mutieren zu Erlebnisparks. In den Zwischenzonen posieren Bagger, Räumfahrzeuge und so fort. Alles ist Zentrum oder Peripherie und alles voller Stefans, die keiner kennt.

Wirklichkeit und Fiktion sind Verwandte ersten, zweiten, dritten und …Grades. Yukako Ando schaut genau hin. Seit den späten 90er Jahren entwickelt sie in sich verschlungene Werkprozesse aus spielerisch anmutenden Handlungsanweisungen und Aktionen, Reflexionen und Installationen. Beiläufige Requisiten und Abfälle gesellschaftlicher Lebensabläufe treiben die Recherche zu Grundvoraussetzungen des urbanen Lebens in ein subtil aufgeladenes Wechselspiel zwischen Kommunikation und Rückzug, zwischen rastloser Bewegung und öder Ruhe, zwischen Arbeit und Vergnügen, zwischen Natursimulation, Brachflächen und Maschinenparks zur Automatisierung aller Lebensbereiche in einer auf Zukunft gepolten Gegenwart. Zwischen Aktion und Stillstand pendelnd, dabei Anfang und Ende im ständigen Richtungswechsel ausbalancierend agiert die Künstlerin in spielerisch komplexem Rollentausch von Sender und Empfänger, Einsatzleiter und Zaubermeister bei der Transformation bizarrer Alltagsmöglichkeiten in elementare Erfahrungen.

Yukako Ando streift durch die Stadt und liest Ereignisse am Rande auf: die Versuche, das alltägliche Verkehrschaos mittels Markierungen zu minimieren, den Einsatz von Baumaschinen allüberall, das Strandgut des alltäglichen Konsums, die flächendeckenden Versuche, zu amüsieren, zu demonstrieren, zu kommunizieren und die ebenso alltäglichen Versuche, in allen Banalitäten und Turbulenzen irgendwie Sinn zu produzieren. Aus seiner Umgebung freigesetzt treibt all dies im Kontext der Kunst in ein Wahrnehmungsexperiment, dessen einziges Ziel es ist, der Wirklichkeit hinter den Versatzstücken ein Gesicht zu geben. So mutieren die kleinen Ereignisse zu rätselhaft aufgeladenen Szenarios, in denen noch das Absurde, das, was man mangels höherer Bedeutung zu übersehen geneigt ist, mit stiller und überzeugender Selbstverständlichkeit seinen Platz in einem humorig durchsetzten ‚Bild’ existentieller Gegenwart behauptet.

Das elementare Zeichenrepertoire von Linien und Richtungsanweisern nutzend ist die Aktion der allgegenwärtigen Erneuerung von Straßenmarkierungen dem künstlerischen Prozess verwandt, wäre da nicht die seltsame Setzung einer Linie, die in „make the way“, 2004, aus der Reihe tanzt. Selbst die Arbeitskleidung der Akteure, die gelbe Regenjacke und die orange-graue Schutzkleidung, leistet im Verbund mit den üblichen, weiß-roten Absperr- und Umleitungssignalen einen Beitrag zum ästhetischen Wohlgefallen. Die vorbildlich ausgetüftelte Leuchtkraft der Farben von Schutz- und Wahrnehmungssignalen in Ausnahmesituationen markiert den kompositorischen Rhythmus in Aktionen und Installationen. So überführt Yukako Ando als Bildhauerin beiläufige Ereignisse und Situationen aus dem alltäglichen Lebensraum in ein spannungsgeladenes Pingpong zwischen Handlungsprozessen und Installationen. Bildhauerei in diesem zeitgenössischen Verständnis verfügt über ein komplexes Werkzeug von der Zeichnung zur Fotografie, vom Text zum Videofilm, von der Aktion zur Dokumentation, von der gezielten oder verschleierten Interaktion mit dem Publikum bis zur Installation, um Wände und Räume zu besetzen.

Da taucht ein zuvor im Modellversuch auf einem Präsentiertisch installierter Spielzeugbagger in einer der komplexen Testphasen von „inside wall“, 2002-03, auf den Stufen zu einem tiefer gelegenen Museumsraum in Serie auf, als gelte es in einer auf Einsatz gepolten Warteschleife Ein- und Ausgang gleichermaßen zu versperren. Die Wahrnehmung schlingert zwischen kontemplativer Ruhe und dynamischer Spekulation über Möglichkeiten in einem nicht ganz durchsichtigen Akt aus dem Alltagsgeschehen.

„Is life dangerous or not?“ lautet 1997 die entscheidende Frage in den „Orientation Series”. 1999 folgt „Y’s life“ und damit ein Wegweiser durch das labyrinthisch verschlungene Agieren im Alltag. „Y’s“ Leben spielt in einem gelben Zelt in Form eines Schutzhelms. Dort liegt die Künstlerin auf dem Boden mit eben jenem Schutzhelm auf dem Kopf, dieser wiederum mit einer Glühbirne versehen. Sie ist umgeben von den nötigsten Utensilien zum Überleben, darunter auch ein Monitor, der allerdings nichts von draußen sendet, sondern im „closed circuit“ das Bild der Künstlerin im aktuellen Zustand reflektiert. Die Arbeit ließe sich als Keimzelle der künstlerischen Untersuchungen betrachten. Viele der Versatzstücke sind gegeben; der zentrale Impuls ebenfalls: das Leben als absurdes Exerzitium auf der Suche nach jenem Zauberdreh, der „das Leben in der realen Welt sinnvoller“ werden lässt, wie Yukako Ando später in „make the way“ anmerkt. Der Helm zieht - als abenteuerliche Konstruktion aus Kochtopf, Kochplatte und Schutzhelm zum „Brain-child Pot“ mutiert – seit 2001 in wundersamen Auftritten durch eine Folge von Arbeiten zwischen Zauberaktion und Laborinstallation, darunter zuletzt in der 2005 am Regengott ‚gescheiterten’ Musikperformance „aus der Dampfzeit“, um nach gesprochenen oder geschriebenen Rezepten durch „Rühren, Mischen, Gedanken kochen“ und so fort „Leben zu zaubern.“

„BALD BIN ICH WEG“ lautet der Titel einer Installation von 2005. Dem ersten Anschein nach ist es Yukako Andos heiterste Vorstellung. Eine kleine Fotoserie deutet auf den Auslöser. Luftballons sind irgendwo im Stadtraum gestrandet. Den Anlass des Ereignisses im Dunkel lassend installiert sie – ganz Bildhauerin - zwei architektonische Gebilde als Aufblasstationen für die bereitgestellten kleinen Gummidinger und überlässt dem Besucher das Feld. Nicht nur Kinder erfreuen sich an diesen ‚Boten’, die in den Himmel steigen und irgendwo landen, manchmal noch mit Luft gefüllt, meist als geschrumpfte oder zerfetzte farbige Hüllen. Im leisen Pingpong zwischen sanftem Aufstieg und schleichender Erschöpfung vibrieren sie als multiple Signale zur Wahrnehmung von existenzieller Zeit im permanenten Kreislauf von Anwesenheit und Abwesenheit, Bewegung und der Ruhe in einem Raum, der „trotz, oder gerade wegen seiner Vergänglichkeit von großer Schönheit ist.“ (Y. A.) Wer seinen Weggang ankündigt, bleibt offen. Sicher ist nur das Verschwinden selbst, so wie das von Stefan.

Und doch ist es diesmal anders. Es gibt keine Farben, alles ist weiß und grau, vielleicht, um die Ruhe im Museum nicht zu stören, vielleicht aber auch, weil es diesmal um einen Menschen geht, der nicht da ist. In seiner kühlen Selbstverständlichkeit zwischen makellosem Kulissenzauber und existentiellem Desaster versetzt das unaufdringliche Zusammenspiel zwischen der markanten Stille des Abwesenden und dem abrupten Geräusch des umstürzenden Fahrrades, zwischen dem ergebnislosen Klingeln und den herumliegenden Briefen in ein Wechselbad der Empfindungen. Die stillen Chiffren, die Klingeltaster und Briefkastenschlitze, die Haltestelle und das Fahrrad triumphieren über den aufgeblasenen Kreislauf des Bedeutenden – und Stefan, der Abwesende, infiziert das Bewusstsein mit Bildern von überall möglichen Begegnungen an Übergängen, derentwegen „das Leben in der realen Welt sinnvoller wird.“

aus dem Katalog “end of season” 2006
Annelie Pohlen